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Dr. Guido Frei anlässlich der Eröffnung einer Fotoausstellung „JERUSALEM –PORTRÄT EINER STADT“  im Stadthaus Zürich, 3. Dezember 1992:

 

Das, was uns heute hier zusammenführt, soll den Anlass bilden, mit ein paar Gedanken uns dieser Stadt hoch oben in der tiefeingeschnittenen Steinhügellandschaft des judäischen Berglandes zwischen Wüste und Meer zu nähern.

Jeder, der die Stadt kennt, weiss es: dieses Jerusalem kann sich an architektonischen und künstlerischen Kostbarkeiten bei weitem nicht messen mit vielen Städten der Welt.

Seine geographische Lage hat ihm kaum besondere Vorteile verschafft. Die Stadt geniesst nicht den Vorzug der Lage an einem grossen Fluss oder am Meer, und die Strassen, die sich hier seit Jahrhunderten kreuzten, hatten, verglichen mit der Ägypten und die Zweistromländer verbindenden Via Maris an der Mittelmeerküste, kaum mehr als regionale Bedeutung. Auch wurde ihre Entwicklung nicht begünstigt durch besonders reiche Wasservorräte, durch bedeutende Bodenschätze und eine ausgesprochen gute strategische Lage.

Und doch erliegen wir immer wieder dem Zauber dieser Stadt, der ausstrahlt vom unerhörten Gegensatz zwischen ihrer Westflanke, die sich waldreich gegen die Küstenebene hinunterzieht,  und der berückenden Kahlheit des judäischen Gebirges im Osten, das steil zum Jordantal hinunterfällt. Und wer wird an düsteren Novembertagen unserer Zonen nicht träumen vom unvergleichlichen Klima Jerusalems mit der trockenen Tageshitze und den kühlen Nächten, vom Lichtglanz, der sich an Sommer- und Herbsttagen über die Häuser und Hügel legt. Und kann man die überwältigende Vielfalt von Menschen vergessen, die Tag für Tag durch die Strassen der Stadt ziehen?

Und doch hat auch dies alles allein nicht das Charisma bewirkt, das sich untrennbar mit Jerusalem verbindet.

Das wurde ihm zuteil, als König David diese zunächst an seine Person gebundene Stadt zur

Hauptstadt seines Reiches machte und dann die heilige Lade, Symbol der unsichtbaren göttlichen Gegenwart, unter Jubel und Posaunenschall heimführte nach Jerusalem und die Stadt so zum Wohnsitz Gottes machte, dem dann Salomo mit dem Bau des Tempels auch die glanzvolle äussere Form gab.

Und tausend Jahre später vollzieht sich dann in den Mauern der Stadt mit der Passion, dem Tod und der Auferstehung Jesu der letzte Akt seines Wirkens und damit jenes Geschehens, das die abendländische Welt tiefgreifend verändert hat. Da weitet sich das Charisma Jerusalems noch einmal aus für jenen Teil der Menschheit, der in der Nachfolge Christi steht.

Aber damit nicht genug. Jerusalem wird für den gläubigen Muslim neben Mekka und Medina 600 Jahre später zum drittheiligsten Ort der Welt. Denn nach der Überlieferung soll im Traum Mohammed in einem nächtlichen Aufstieg vom heiligen Felsen auf dem Tempelberg durch die sieben Himmel zu Allah entrückt worden sein, dort die Gebote für die richtige Art und die Anzahl der täglichen Gebete für seine Anhänger empfangen haben und vor Tagesanbruch vom Tempelberg in Jerusalem auf seinem geflügelten Pferd wieder nach Mekka zurückgekehrt sein. Den damit auch für den Muslim heiligen Felsen umschliesst seit 685 n.Chr. der Felsendom.

So hebt sich diese Stadt für die Gläubigen dreier Weltreligionen über die irdisch-reale Existenz hinaus:  sie wird zum verklärten Sinnbild der in ihr wohnenden Göttlichkeit, der Hoffnung auf eine heilvolle Zukunft. Diese dreifach verschieden aufgefasste und erlebte Heiligkeit, die sich mit Jerusalem verbindet, verleiht dieser Stadt ihre Einmaligkeit, ihre schwer fassbare Aura. Sie wird für Juden, Christen und Muslims zur Himmelsstadt, zur Vision einer besseren neuen Welt. Ihre Geschichte wird damit übergreifend, wird Weltgeschichte, wird Menschheitsgeschichte.

Und an dieser schicksalshaften Einbindung in ein grösseres, umfassenderes Ganzes ändert auch nicht die leidvolle Tatsache, dass sich die Heiligkeit dieser Stadt immer wieder auch als Fluch über sie gelegt hat, weil das, was in ihren Mauern im Verlauf der Zeiten geschehen ist, sich allzu oft bewegt hat zwischen Göttlichkeit und Niedertracht, Schmerz und Freude, Verheissung und Not, Hass und Liebe.

Und wir fragen uns mit Sorge, ob und wann es der Stadt beschieden sein wird, aus diesem Kreislauf der tödlichen Antithesen herauszufinden, in den sie die Besitzansprüche von Juden, Christen und Muslims hineinziehen. Aber gerade im Kontext zur politischen Gegenwart droht die immer wieder gebrauchte Chiffre von „Jerusalem als der Stadt dreier Weltreligionen“ die notwendige Einsicht in die tiefgreifenden Unterschiede im Zugang zu dieser Stadt und ihrer Identität mit ihr zu verschleiern.

Denn eines ist klarzustellen: Christentum und Islam entspringen einer gemeinsamen Wurzel: dem Judentum. Und das heisst nicht mehr und nicht weniger: „dass es ohne jüdische Geschichte und jüdische Tradition weder für Christen noch Muslims ein heiliges Jerusalem gäbe.“

Für den Juden geschieht die Identifikation mit Jerusalem nicht einfach durch die Verbundenheit mit bestimmten Stätten tatsächlicher oder legendenhafter Ereignisse um einen Religionsstifter. Sie ist für ihn, auch und gerade in ihrer sakralen Erhöhung, durch und durch historisch begründet.

Für den Juden geht die Einzigartigkeit Jerusalems auf David zurück, der mit dem sicheren Blick eines überlegenen, genialen Staatsmannes und Feldherrn um 1000 v.Chr. das jebusitische Felsennest zwischen den Stammesgebieten von Benjamin und Juda eroberte und den stammesgeschichtlich neutralen Ort zur Hauptstadt der vereinigten Süd- und  Nordstämme Israels machte. Und David ist es dann, der die Bundeslade, Symbol der unsichtbaren göttlichen Gegenwart, nach Jerusalem holt und auf dem Berg Zion aufstellt. Die heilige Lade wird jetzt zum kultischen Eckpfeiler des ganzen jüdischen Volkes. Und die geographisch-historische Dimension weitet sich in eine existenzielle, die das ganze Menschsein umfasst.

Und dieses mystische Band, das den Juden unlösbar an Jerusalem bindet, erweist nun seine einzigartige Stärke. Für das Volk zunächst im babylonischen Exil; dann aber von schicksalhafter Bedeutung während der zweitausend Jahre dauernden Zerstreuung nach der Zerstörung des Zweiten Tempels und der Vertreibung aus der Stadt 70 n.Chr. Aller Glanz, aber auch alles Elend der Stadt haben ihr Bild unauslöschbar in die Herzen der Juden eingeschrieben, und die Heimkehr nach Zion wird so zum ständig wiederkehrenden Motiv in ihrem Gebet. Dieser unerschütterliche Glaube an die Rückkehr nach Jerusalem bildete über die Jahrhunderte hinweg die nie verlassene Hoffnung und Grundlage für die nationale Wiedergeburt des jüdischen Volkes als souveräne Nation.

Seit den Tagen Davids gab es für das jüdische Volk nie eine spirituell-religiöse Bindung an Jerusalem ohne die politisch-nationale. Und daraus erhebt sich der klare und unmissverständliche Anspruch Israels, Jerusalem von neuem zum zentralen Mittelpunkt der staatlichen Entität zu machen, in der das jüdische Volk 2000 Jahre nach seiner Zerstreuung seine nationale Wiedergeburt gefunden hat.

Für den Muslim aber ist dies nur schwer nachvollziehbar, blickt doch auch er auf 1300 nur knapp ein Jahrhundert lang unterbrochene Jahre der Souveränität über die Stadt zurück. Schwer, auch wenn um der historischen Wahrheit willen nicht verschwiegen werden darf, dass Jerusalem während der ganzen muslimischen Zeit der Status der Hauptstadt eines unabhängigen Staates nie wieder gegeben wurde, und dass –vielleicht mit Ausnahme der ein Jahrhundert dauernden Herrschaft der Omajaden nach der Eroberung durch den Kalifen Omar 638- es zumeist politisch und kulturell tief vernachlässigte Provinzstadt innerhalb von Imperien blieb, die ihre Zentren in Damaskus, Bagdad, Kairo oder Istanbul hatten.  Daran änderte auch die in den grossartigen Bauten auf dem Tempelberg repräsentierte Heiligkeit, die bezaubernde Architektur der Mamlukenzeit und die bis heute bewunderten Mauern Suleimans des Prächtigen nichts.

Die sich dann mehr und mehr akzentuierende Ausrichtung des arabisch-muslimischen Interesses an Jerusalem hat nach den langen Jahrhunderten der Vernachlässigung ihren Anfang weitgehend erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts genommen.  Sie entwickelte sich mit der verstärkten zionistischen Einwanderung nach Palästina, die sich als Folge der nationalsozialistischen Machtergreifung und der beginnenden Judenverfolgungen der Neuzeit verstärkte und in den späten Zwanziger- und den Dreissigerjahren zu den bekannten Gewaltausbrüchen führte.

Verhängnisvoll war dabei, dass die während der 400jährigen osmanischen Herrschaft über Jerusalem immer klar getrennten beiden Elemente der Jerusalem-Politik, nämlich der Status der Heiligen Stätten einerseits und die Souveränität über die Stadt anderseits mehr und mehr ineineinanderzugreifen begannen und die Situation schwer belasteten. Diese unglückliche Verflechtung erfolgte vor allem während der britischen Mandatszeit und mit dem Teilungsplan der UNO im Jahre 1947, der vorsah, Jerusalem und seine Umgebung als Corpus separatum aus der Konzeption der Zweistaatenlösung herauszubrechen und direkt den Vereinten Nationen zu unterstellen.

Diese und zahlreiche andere Jerusalempläne hatten stets eines gemeinsam: sie gingen davon aus, Jerusalem wegen der heiligen Stätten als ein besonderes Problem anzugehen und die Stadt als normale politische Einheit abzutrennen vom gesamten Rahmenwerk einer Lösung des Nahostproblems. Dies aber führte mehr und mehr zu einer verhängnisvollen Tabuisierung, Mystifizierung und Emotionalisierung der Jerusalemfrage, die von vornherein jede von politischer Vernunft getragene Lösung in Frage stellten. Dabei zeigt sich immer wieder seit der Zeit des britischen Mandates im Verhalten des christlichen Westens und in der Politik der UNO das unverkennbare Bemühen, durch jede Form von Internationalisierung Jerusalem vom jüdischen Volk zu trennen, dem es doch unabdingbar verbunden ist durch Ursprung und Schicksal, durch Tradition und Bedeutung.

Und es war die gleiche christliche Welt, die nichts unternahm gegen die im israelisch-arabischen Krieg von 1948 sich vollziehende völlig unnatürliche und absurde Teilung Jerusalems, dafür aber den ungeheuren Widersinn zuliess, dass während der 19jährigen Spaltung der Stadt –der einzigen in ihrer 3000-jährigen Geschichte- Strassensperren, Stacheldraht, Minenfelder und hermetisch verschlossene, von jordanischen Todesschützen bewachte Grenzen das gegenseitige Kommen und Gehen von Menschen verunmöglichten, und der gemäss internationalen Abmachungen gesicherte Zugang zu den Heiligen Stätten für die christliche Bevölkerung erschwert und beschränkt, für die Juden aber vollständig verschlossen war.

Mit der Wiedervereinigung 1967 war dieser Albtraum beendet. Juden, Christen und Araber durften sich in ihrer Stadt wieder frei bewegen.Und mit Teddy Kollek, unter dessen Patronat die Ausstellung, die wir heute eröffnen, steht, erwuchs der Stadt ein Bürgermeister, der seit einem Vierteljahrhundert durch einen von Toleranz und Vernunft getragenen Pragmatismus und zahlreichen, von der israelischen Regierung sanktionierten Sonderregelungen für Jerusalem der gesamten Welt gezeigt hat, dass ein modus vivendi verwirklicht werden kann, der dieses geplagte, seit 2000 Jahren immer wieder geschundene Jerusalem endlich doch zur Stadt des Friedens machen könnte.

Und warum sollte Teddy Kolleks auf Ideen des in der Mandatszeit amtierenden Richters Sir William Fitzgerald basierender Vorschlag nicht verwirklicht werden können, Jerusalem nach dem Muster von London in verschiedene Boroughs mit je vorwiegend jüdischer, arabisch-muslimischer oder christlicher Bevölkerung aufzuteilen, denen unter einer Souveränität ein Höchstmass an verwaltungsmässiger Unabhängigkeit gegeben würde? In bezug auf die Heiligen Stätten ist dies übrigens seit 25 Jahren schon heute der Fall.

Es wäre nicht mehr und nicht weniger als die Erfüllung eines historischen Auftrags, wenn die Vereinigten Nationen in engster Tuchfühlung mit den Betroffenen sich solcher aus Vernunft und Common sense erwachsender Optionen annähmen. Dies würde dem Frieden mehr dienen als heute noch festzuhalten an nie widerrufenen Jerusalem-Resolutionen aus den Jahren nach der Wiedervereinigung, deren Erfüllung in ihrer letzten Konsequenz die neuerliche Teilung der Stadt bedeuten würde. Sie sind durch die Entwicklung längst überholt und sind als sinnentleerte Worthülsen Makulatur der Weltgeschichte geworden.

Angesichts der schicksalshaften Verflechtung von Völkern und Religionen, die zum jahrtausendealten Wesen der Stadt gehört, und die nicht nur Last bedeutet, sondern auch Reichtum, kann im Blick auf künftige politische Regelungen die Frage nicht lauten: Wem gehört Jerusalem? Denn jeder Versuch, sie zu beantworten, würde in die Ausweglosigkeit führen. Das muss auch Israel wissen, und ich meine, man weiss es dort, und man ist seit der Wiedervereinigung bestrebt, das Handeln darnach auszurichten.

Nein, die Frage kann nur lauten: Welche Souveränität gewährleistet in einem ungeteilten Jerusalem auch unter schwierigsten ethnischen, politischen und religiösen Voraussetzungen ein Maximum an verwirklichter Demokratie, an Toleranz, an friedlicher, blühender Entwicklung? Es wäre ein Schritt von historischer Bedeutung, wenn die politische Weltöffentlichkeit den Mut fände, ihre hypokritische Wartestellung aufzugeben und einzugestehen, dass die Antwort auf diese Frage Israel schon gegeben hat. Mit seiner nun ein Vierteljahrhundert dauernden Souveränität über die Stadt hat es eine politische Situation ermöglicht, die wahrhaftig vor dem Urteil der Geschichte zu bestehen vermag. Wurde doch damit der unabdingbare Wahrheitsbeweis erbracht, dass allen Unzulänglichkeiten und Schwierigkeiten, allen schmerzlichen Rückschlägen der Gegenwart zum Trotz unter der jetzt 25 Jahre dauernden israelischen Souveränität die Existenz der Vielheit und Verschiedenheit der Menschen dieser Stadt gesicherter, erträglicher, menschlicher gewesen ist als in all den Jahrhunderten, seit die römische Soldateska 70 n.Chr. die Stadt dem Erdboden gleich machte.

Mir scheint, dies müsste den politischen Verantwortlichen der Welt genügen, um nicht länger die Realität zu verweigern, sondern mutig und entschlossen eine Situation zu bejahen, die durch den geschichtlichen Prozess unumstösslich geworden ist. Das aber bedeutet gleichzeitig für Israel, vor allem aber für die Verantwortlichen der Stadt unter einem künftigen Nachfolger von Teddy Kollek, eine unerhörte Herausforderung, fortzufahren und nicht nachzulassen, gegenüber der nichtjüdischen Bevölkerung ein Höchstmass an Toleranz, an Entgegenkommen, an Einsicht, an Sensibilität, an politischer Vernunft zu entwickeln.

Ich schliesse diese Betrachtung mit einem bekenntnishaften Wort von Teddy Kollek: „Diese wunderbare Stadt ist das Herz und die Seele des jüdischen Volkes, und man kann nicht leben ohne Herz und ohne Seele.“


DIE VERANTWORTUNG DER MASSENMEDIEN

Von Dr. Guido Frei, von 1946-57 Leiter der wissenschaftlichen und literarischen Sendungen von Radio Zürich, von 1958-1979 verantwortlicher Leiter des Programms des Fernsehens DRS.

 

Leitbilder des Denkens sind in Worte gefasst worden, seit der Mensch über den Kampf um sein nacktes Überleben hinaus sich jenen Freiraum zu schaffen wusste, der ihm ermöglichte, über sein Wesen, das Rätsel seines Kommens und Gehens, seine Vorstellungen vom Wirken göttlicher Mächte, über das Walten der Natur, die ihn umgab, über sein Leben in der Sozietät, der er angehörte, nachzudenken. Aber während Jahrtausenden war der Weg, auf dem er seine Botschaften aussenden konnte, äusserst schmal. In den meist feudalistischen Gesellschaften der Alten Welt und des Mittelalters war der Prozess des Sendens und Empfangens äusserst begrenzt, und es waren nur wenige, die Teil hatten am Wirken des Geistes.

Das änderte sich, als mit der Erfindung Gutenbergs die technischen Möglichkeiten der Vervielfältigung auf ungeahnte Weise erweitert wurden, und das Wort fortan nicht mehr nur von einer kleinen Elite gelesen und verstanden wurde, sondern mit dem Buch eindrang in die Heimstätten auch der sozial und bildungsmässig Unterprivilegierten und so das Licht des Geistes sich auszubreiten begann. Es waren nicht nur einzelne, es war eine stetig wachsende Vielheit, die nun Zugang hatte zu den Früchten des Denkens, der Fantasie, der Beschreibung und Deutung naher und fernerer Welten und Vorgänge.

Aber noch gab es Grenzen: Bücher entstanden nur in begrenzter Anzahl. Sie mussten erworben, gelesen und verstanden werden, sodass von der Vermittlung geistiger Inhalte noch während längerer Zeit der grössere Teil der Menschen ausgeschlossen blieb. Das begann sich zu ändern, als mit der Presse eine neue Form der Vermittlung von Information entstand. Sie schuf Mitteilungsmöglichkeiten, die weit über das bisherige Mass hinausgingen.

Aber erst als mit den elektronischen Medien der Informationsstrom ungehindert zu fliessen begann und noch bestehende Grenzen innerhalb der Gesellschaft und zwischen Ländern und Kontinenten aufgehoben wurden, wurde die Kommunikation total, sind aus den Medien Massenmedien geworden, die nun den personalen Raum des Einzelnen zu besetzen und zu dominieren begannen. Damit aber sind dem Radio und vor allem dem Fernsehen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Aufgaben zugewachsen, die von ihnen ein hohes Mass an Verantwortung abfordern. Was sie als tägliche Kommunikationsinhalte vermitteln, auf welche Weise sie sie vermitteln und wie sie ins Weltbild des Einzelnen eingeordnet, gewertet und interpretiert werden, das wird immer entscheidender die Richtung bestimmen, in der sich unsere Gesellschaft bewegt.

Ein Blick auf die Medienszene der vergangenen anderthalb Jahrzehnte gibt Aufschluss darüber, wie die Medien ihre Verantwortung wahrnehmen, was für Chancen sie haben, wo sie an Grenzen stossen, was sie versäumen und unterlassen und worauf sie angesichts einer Generation, die erschreckende Zeichen tiefster Verunsicherung zeigt, ihr Tun vermehrt ausrichten  müssten. Das ist vornehmlich in der Art und Weise, wie die Medien ihren publizistischen Auftrag erfüllen, nachzuweisen. Er wurde in den Sendungen der öffentlichen  Funkmedien in den vergangenen Jahren durch die Manifestationen der antiautoritären Bewegung der späten Sechzigerjahre mit ihrer Infragestellung von Instanzen und Institutionen wie Staat, Kirche, Armee, Familie, Schule mehr und mehr bestimmt.

Die Autonomie des Individuums in der modernen Industrie- und Wohlstandsgesellschaft; seine Position  in dem durch den freien wirtschaftlichen Konkurrenzkampf geprägten Arbeitsprozess; die

Macht der Technik, oft als Bedrohung und nicht nur als Erweiterung menschlicher Möglichkeiten empfunden; die Zwänge eines gigantisch zunehmenden Verkehrs; eine Fortschrittsgläubigkeit, die den Ausstoss immer neuer Konsumgüter ins Überdimensionale steigert – diese Thematik begann den journalistischen Alltag der Funkmedien zu dominieren und wurde zum beherrschenden Impetus ihres publizistischen Auftrags, Öffentlichkeit herzustellen, dabei durch das Abwägen von Soll und Ist jene Kritik- und Kontrollfunktion wahrnehmend, die sie als Teil  ihres Auftrags deklarieren.

Es kam ein weiteres hinzu, das sich ausserhalb der Medien, aber von diesen in besonderer Weise artikuliert, vollzog und noch immer vollzieht: die Politisierung von Problembereichen, die zunächst ausserhalb der Mechanismen politischer Entscheidungsvorgänge lagen. Dazu gehören die gesellschaftliche Situation der Frau; Erziehungsfragen, die besonders um Strukturen und Funktionen unserer Schulsysteme kreisen;Daseinsbedingungen des alternden Menschen; das Pro und Kontra zum Schwangerschaftsabbruch, die Kostenexplosion im Gesundheitswesen und die Art und Weise der medizinischen Betreuung; die Qualität unserer Lebensmittel; die Drogensucht; Diskussionen um die Sterbehilfe; Konsumentenschutz; Sorgen um Lebensqualität –Themen, die immer häufiger und heftiger ins Spannungsfeld des Soll und Ist hineinzünden, Besitz ergreifen von den Programmen politischer Parteien und Gruppierungen, von da den Weg in die parlamentarischen Auseinandersetzungen finden, Regierungen und Behörden veranlassen, Entscheidungen zu treffen

oder in einer direkten Demokratie wie der schweizerischen die Entscheidungen durch den obersten Souverän, das Volk treffen lassen. Damit gelangen immer mehr Probleme in den öffentlichen Prozess politischer Einflussnahme, die vordem primär religiösen. ethischen, sozialen und wissenschaftlichen Gesellschaftsbereichen vorbehalten blieben. Und weil Politik Kampf um die Erhaltung und/oder Veränderung bestehender Verhältnisse bedeutet, gerieten immer mehr Fragen, die den Humanbereich und im besonderen den Menschen als Individuum betrafen, in den Sog politischer Auseinandersetzung.

 

Diese Thematik, verbunden mit einer sich immer schärfer akzentuierenden Gesellschaftskritik, wurde nun zum beherrschenden Agens der elektronischen Medien, in denen –besonders im Fernsehen- mit den Möglichkeiten der Personalisierung alle Spielarten der Darstellung ausgeschöpft werden konnten. Wer nun glaubte, dass die Funkmedien ihre Aufgabe entsprechend ihrem Auftrag als öffentliche Institutionen, also nach dem Prinzip eines immer wieder angestrebten Ausgleichs, wahrnähmen, sah sich getäuscht. Zwar wurde das Gebot des Pro und Kontra,  des audiatur et altera pars in kontroversen Lagen mehr oder weniger erfüllt, aber das Engagement eines anwaltschaftlichen Journalismus brach immer wieder durch und drohte unter Verkürzung der gebotenen Distanz die journalistische Funktion der Ermittlung und Vermittlung zu ersetzen durch  Plädoyer und Kampagne.

 

Damit rückte die Art und Weise, wie die Medien in einer demokratischen Gesellschaftsordnung ihre ihnen zukommende Kritik- und Kontrollfunktion ausübten, ins Zentrum immer emotionaler sich entwickelnder Diskussionen. Sie hatten ja den öffentlichen Raum herzustellen, in welchem Meinungspositionen, Entscheidungsvorbereitungen und Entscheidungen für den Bürger einsichtig werden müssen. Sie hatten immer wieder zu erhellen, ob das, was sein soll und das, was beabsichtigt ist, mit dem, was ist, übereinstimmt, und da mit der Kritik anzusetzen, wo Soll und Ist auseinanderlaufen, eine Funktion, die in der demokratischen  Ordnung unbestritten ist und gegen jeden Druck grundsätzlich behauptet und durchgesetzt werden muss.

 

Nun ist der Erfolg ihrer Ausübung massgeblich abhängig vom publizistischen Berufsverständnis des Journalisten der Funkmedien. Seine wesentliche Aufgabe ist es, die Symptome des sozialen und kulturellen Wandels zu registrieren und zu interpretieren, was ihn zwangsläufig in Gegensatz bringt zu Kräften der Bewahrung, der Erhaltung. Daraus leitet sich sein Misstrauen ab gegenüber der Macht, gegenüber Institutionen, die Macht ausüben, die –auch in einem demokratisch verfassten Staat- missbraucht werden kann. Er steht der selbstverständlichen Autorität überkommener Werte mit kritischer Distanz gegenüber und ist bereit, sie in Frage zu stellen, nicht um sie zu verneinen und abzubauen, sondern auf neue Weise zu integrieren ins Weltbild seiner Gegenwart. Und er entwickelt und pflegt gleichsam ex officio einen Sinn für das Unbeachtete, Seltsame, Ungewöhnliche, Ausseralltägliche, für das, was nicht von vornherein im Lot ist; sicher auch, weil ihm ein höherer Mitteilungswert zukommt, aber vor allem, weil es seinem Streben entspricht, das Schwächere, nicht Etablierte zu artikulieren. Und schliesslich erfüllt sein Berufsverständnis ihn mit Skepsis gegenüber allem, was nach voreiliger Übereinstimmung aussieht, weil er dauernd die Gefahr im Visier hat, Gegensätze, die um fruchtbarer Lösungen willen des Austrags bedürfen, könnten vorschnell verwischt werden. Er verbirgt nicht seine Parteinahme für das Neue, das Künftige, dem er in der Darstellung von Sachverhalten den Vorzug gibt. So verstanden, bildet die Funktion des Publizisten eine wesentliche Kraft im Bemühen, durch die Vermittlung von Einsicht und Erkenntnis den Menschen unserer gesellschaftlichen Gegenwart immer autonomer und damit gesprächsbereiter zu machen, seine Bereitschaft zu stärken für Solidarität, für Interdependenz, und den Weg zu öffnen für eine immer umfassendere Humanisierung unserer Welt.

 

Misst man nun aber dieses Idealbild der journalistischen Auftragserfüllung an der gesellschaftlichen

Wirklichkeit, auf die die Signale der Rundfunkjournalisten auftreffen, so melden sich Zweifel, ob Absicht und Tun im publizistischen Auftrag immer kongruent waren. Statt Gesprächs- und Verständnisbereitschaft erleben wir gerade in jenen Fragen des Humanbereichs, die immer stärker in den Prozess politischer Entscheidungsvorgänge involviert worden sind, eine Polarisierung, die unterschiedliche Meinungspositionen immer weiter auseinandertreibt und Möglichkeiten der Verständigung in Frage stellt. Angesichts der bedrängenden Fragen der Zeit herrscht statt der Gesprächsbereitschaft oft das vereinfachende Dogma des Entweder-Oder, das jedes wirkliche Verständnis blockiert und die Toleranz der Einsicht in einen gegenteiligen Standpunkt verhindert. Damit werden Konflikte, die zur Natur des Menschen und der Gesellschaft gehören, nicht abgebaut und überwunden, sondern genährt und am Leben erhalten. Konflikte aber „dürfen sich nicht festsetzen, weil jeder Konfliktstau den Ausbruch der Gewalt fördert.“ (Theodor Wilhelm) Und hier setzt die Mitverantwortung, ja die Mittäterschaft von Radio und Fernsehen ein. Unter Berufung auf ihre legitime und für eine Demokratie lebensnotwendige  Funktion, Foren zu bilden, um unterschiedliche, ja gegensätzliche Standpunkte öffentlich ins Gespräch zu nehmen, laufen sie Gefahr, den Konflikt zum dramatischen Element zu reduzieren, nach dem man greift, um der Darstellung eines Sachverhalts jene Attraktivität zu verleihen, die den erfolgreichen Transport zum Hörer und Zuschauer sicherstellt. Der Empfänger solcher Signale wird dann zum emotionalisierten Voyeur eines immer ideologischer aufgeheizten Schlagabtausches, statt dass er eingeholt wird in die Auseinandersetzung um Fragen der Zeit, die ihn unmittelbar anrühren, und er so mitbeteiligt und mitverpflichtet wird bei der Suche nach Antworten und Lösungen. Nur allzu oft ist er nach solchen Sendungen entlassen in Ratlosigkeit, in Verunsicherung, in flüchtige Parteinahme, und die Integrationsfunktion, auf die sich die öffentlichen Sendeanstalten im Kampf um ihre wankende Monopolstellung so angelegentlich berufen, wird verfehlt.

 

Dieser Zustand wachsender Desintegration fällt zusammen mit dem Schwinden des Geschichtsbewusstseins, dem die Funkmedien mit ihrem Zwang zur täglichen Registrierung

der aktuellen Fakten und Vorgänge einer vordergründigen Gegenwart Vorschub leisten. Sie potenzieren damit die an sich schon latent vorhandene Neigung, Einzelprobleme zu überdimensionieren und isoliert  anzugehen, und reduzieren die Bereitschaft und Fähigkeit des Menschen, Zusammenhänge zu erkennen.  Die verhängnisvolle Folge ist eine Einschätzung und Beurteilung von Lagen, die der geschichtlich bedingten Wirklichkeit nicht entsprechen. Damit wird der Prozess der Desintegration der Gesellschaft und des einzelnen noch einmal gefördert, und er wird schutzlos den Gefahren und Nöten einer immer bedrängender werdenden Daseinsangst ausgesetzt.  Der Verlust an geschichtlicher Substanz führt dazu,  dass Instanzen und Institutionen ihre Autorität, geltende Normen, Werte und Ideale ihren Sinn verlieren. Sie werden von einzelnen Journalisten der Medien als Leerformeln einer „heilen Welt“ diskreditiert, die es zu bekämpfen gilt, weil die, die an ihnen festhalten, ja damit doch nur das „repressive Geschäft der Macht“ betreiben und damit die Gestaltung der Zukunft, ihrer Zukunft, verhindern. Wie sehr vergessen sie dabei, dass die „Verlängerung nach rückwärts der von uns nach vorwärts gewollten Richtung die bejahte Grundkoordinate der Geschichte ist“ (Alexander Rüstow). Diese Koordinate aber droht verschüttet zu werden unter dem Geschiebe des Akzidentiellen, das die Medien täglich herbeischaffen müssen.Um sie freizuhalten, müssten die Funkmedien sich wieder mehr der sichtenden, erkennenden, wertenden und deutenden Potenzen von Dichtern und Schriftstellern, von Denkern und Wissenschaftern, von Ethikern und Psychologen versichern, die nicht dem Primat der flüchtigen Täglichkeit verpflichtet, sondern aus ihrem jeweiligen Auftrag heraus legitimiert sind, Sinn und Zusammenhang zu stiften, aus denen dem Menschen jene Kräfte zuwachsen, die ihn befähigen, sein schwierig gewordenes Dasein zu bestehen.

 

Eine weitere, besonders verhängnisvolle Wirkung, deren Folgen noch schwer abschätzbar sind und nur vermutet werden können, ist die kollektive Depression, die die Medien mit ihrer Überinformation mit „bad news“ bewirken (Reginald Földy). Sie dominieren weite Programmbereiche insbesondere des Fernsehens, weil das Bildmedium ihnen einen verhältnismässig hohen Mitteilungswert zumisst, zumessen muss. Die täglichen Nachrichtensendungen mit ihren Informationen über Terroranschläge, Entführungen, Morden und Massakern, spektakulären Unfällen, Naturkatastrophen schaffen mit ihrem Realitätsanspruch Tag für Tag eine einseitige Darstellung der Wirklichkeit. Die Medien, und besonders das Fernsehen, sind hier in einem Teufelskreis gefangen, aus dem sie kaum ausbrechen können, wenn sie den Prinzipien des allgemeinen Nachrichtenverständnisses nicht abschwören wollen. Die „bad news“ der Telejournale finden im übrigen Fernsehprogramm ihre Ergänzung in der Rolle, die Brutalität und Töten in unterhaltenden Filmen und Serien spielen. Zehntausend Bildschirmmorde bringt ein Kind in den Vereinigten Staaten gemäss einer US-Studie bis zu seinem 14. Altersjahr hinter sich.  Das vollzieht sich im fiktiven Bereich, wird man relativierend sagen. Der nekrophile Kitzel aber in der Sportreportage, die vermittelt, wie ein Rennfahrer, eingeklemmt im brennenden Wrack seines verunfallten Wagens, vor den Augen von Millionen entsetzter Fernsehzuschauer einen qualvollen Tod erleidet,  ist nackte Realität. Die Jagd nach „Fremdleid“, mit dem der Mensch durch das Fernsehen in einem Ausmass konfrontiert wird, das seine Fähigkeit zur einordnenden Verarbeitung total überfordert, nimmt ihren Fortgang mit der Ausbreitung und Häufung von Bildern und Szenarien sozialen und menschlichen Zerfalls in den Dokumentarsendungen der verschiedensten Redaktionen, die einander, oft ohne voneinander zu wissen, überbieten in der Darstellung negativer Sachverhalte. Auf diese Weise sammelt sich in unserer Mediengesellschaft ein Übermass an destruktiver Information an, und es entsteht ein „negativer Bewusstseins-Speicherungsprozess, der zu fehlgebahnten Ableitungen führt, wie zum Beispiel aggressives Verhalten im  Strassenverkehr oder in Schulen und Universitäten jene Erschiessungen von Lehrern und Schülern durch einzelne Amoktäter, wobei diese aggressiv-depressiven Züge in ihrer extremen Steigerung den Charakter anarchistischer Selbstzerstörungstendenz gewinnen mit Terrorismus, Anarchie, Gewalt und Drogenverfallenheit  als möglichen Folgen“ (Reginald Földy), Folgen, die  dann als brutale, schonungslose Realität wieder in den Nachrichtenbulletins  aufscheinen –der Informationsauftrag muss ja erfüllt werden- und durch ihre grossen multiplikatorischen Möglichkeiten Analogiewirkungen erzielen, die als „bad news“ von neuem in die Medienszene zurückfliessen. Damit wird als Dauerzustand ein circulus vitiosus des Negativen geschaffen, der nicht spurlos am Informationsempfänger vorübergeht und  Verhaltensweisen bewirken kann,  die den Sinn publizistischer Auftragserfüllung auf verhängnisvolle Weise reduziert und angesichts bestimmter Informationsleistungen immer imperativer die Frage des cui bono aufwirft. Denn wo treiben die Medien mit ihrem publizistischen Tun hin, wenn der Empfänger schliesslich die Aufnahme verweigert, sich abschirmt, indem er sich Sendungen zuwendet, die ihn unterhalten, zerstreuen und seinen Sinn für lebendige Teilhabe an der Gegenwart, in der er steht, reduzieren?

 

In den drei erwähnten Wirkungen der Medien –eine Polarisierung, die gemeinschaftszerstörerische Züge trägt; der Verlust an Geschichtlichkeit, aus dem die Verneinung sinn- und lebenstiftender Normen und Werte erwächst; kollektive Depression durch ein negatives Überangebot- werden die Grenzen ersichtlich, an die die Träger des publizistischen Auftrags von Radio und Fernsehen nach  achtzig bzw. fünfzig Jahren Existenz stossen. Die zunehmende Einengung  der Erfüllung ihres Sendeauftrags durch die immer grössere Konkurrenzierung durch populistische Privatsender wird für die öffentlichen Rundfunkanstalten zum nicht mehr übersehbaren Menetekel, wenn sich ihre Träger nicht neu besinnen auf die Möglichkeiten, ja auf die Chancen ihres publizistischen Auftrags, die sie mit dem ihnen zustehenden geistigen und  technischen Potenzial ergreifen und wahrnehmen können. Die Chancen wahrnehmen heisst Inhalte vermitteln, die auf das tua res agitur des einzelnen Menschen gerichtet sind und nicht die Unverbindlichkeit einer anonymen Gesellschaft ansprechen. Dieser Wandel in der Zielrichtung bedingt, dass der Journalist der elektronischen Medien sich von der Hybris freimacht, selber Normen zu setzen. Er soll „die Welt nicht machen, sondern er soll sie zeigen.“ (Willibald Hilf) Und vor allem: er soll „Bekenntnisse nicht für Erkenntnisse ausgeben“ (Harry Pross) Eine so verstandene Ausübung des publizistischen Berufs vermeidet das, was in den letzten Jahren am meisten kommunikationsverhindernde Gegnerschaft zwischen den Medien und ihren Rezipienten hervorgerufen hat: den ideologischen Journalismus mit all seinen vorgefassten Meinungen und Vor-Urteilen, und bildet allein die Voraussetzung dafür, dass die Erfüllung des publizistischen Auftrags im richtigen Verhältnis von Distanz und Engagement auf das eine Ziel gerichtet ist: beizutragen, den Erkenntnisraum des Menschen so zu erweitern und anzufüllen, dass er die Welt, in der er lebt, besser verstehen und bestehen kann.

 

Das schränkt den kritischen Ansatz des Journalisten nicht ein,. Aber man muss sich fragen, ob die kritische Funktion der Medien in den letzten Jahren, statt Instrument zu sein,  nicht zuweilen Gefahr lief, zum Selbstzweck zu denaturieren mit der Konsequenz, dass sie sich der Chance mehr und mehr verschlossen, mit ihren Wirkungs- und Verbreitungsmöglichkeiten Inhalte zu vermitteln, die unsere zerrissene Welt zwar nicht heil machen, aber Wege aufzeigen, wie sie heiler werden könnte; die den einzelnen Menschen ansprechen als Glied einer Gemeinschaft und nicht so sehr als Teil einer anonymen Gesellschaft, die eine echte Sozietät ja nicht zu schaffen vermag. Denn „der moderne Massenmensch ist isoliert und einsam, selbst dann, wenn er Teil einer Masse ist“ (Erich Fromm). Das zeigen uns die Jugendlichen in bedenklicher Weise, die wir lehren müssten, „dass es nicht genügt, sich zu Hunderten und Tausenden zu versammeln, um nicht allein zu sein“ (Jeanne Hersch). Isolation aber schafft Resignation und Verzweiflung oder führt in Fanatismus, Gewalt und Zerstörung. Und hier trifft die Medien eine Mitverantwortung, aus der sie sich, bei aller Berufung auf ihre gesellschaftskritische Funktion, nicht davonstehlen können: durch das, was sie in ihren Sendungen bewirken, aber auch unterlassen. Sie verfehlen ihren Auftrag wahrhaftig nicht, wenn sie den Mut aufbringen, das Bindende zu zeigen und nicht pausenlos das Trennende zu artikulieren, weil es sich dramaturgisch so viel besser aufbereiten lässt. Damit treffen sie den Empfänger ihrer Botschaften im Zentrum seines Menschseins. Denn „das Verlangen, ein Gefühl des Einsseins mit andern zu erleben, wurzelt in den Existenzbedingungen der Spezies Mensch und stellt eine der stärksten Antriebskräfte des menschlichen Verhaltens dar“ (Erich Fromm). So können Voraussetzungen geschaffen werden, dass Menschen wieder aufeinander hören, statt sich in die Verhärtung eines dogmatischen Entweder-Oder einzuigeln.

 

Das verlangt von den Medien nicht, Konflikte zu ignorieren, herunterzuspielen. Sie müssen in jeder Gemeinschaft, die diesen Namen verdient, zum Austrag kommen können. Was aber nottut, ist ein neuer Sinn für die unabdingbare Notwendigkeit des Strebens nach einem Mindestmass an Übereinkunft, wo immer Positionen einander gegenüberstehen. Gerade die Funkmedien mit ihren Darstellungs-, Verbreitungs- und Wirkungsmöglichkeiten müssten, statt Harmonisierungsansätze als Instrumentarien einer Heile-Welt-Politik zu verteufeln, die ja doch nur Machtpositionen erhalten will, Wege aufzeigen, die zur Strategie des Kompromisses führen. Er ist das „einzige Mittel, die Eskalation von Gewalt und Fanatismus zu zerstören“ (Theodor Wilhelm). Die Fähigkeit zum Kompromiss erfordert die Einsicht in die Relativität der eigenen Wahrheiten, die ja nie absolute, statische Grössen sind, sondern im Fortschreiten von Teilwahrheit zu Teilwahrheit gewonnen werden müssen. Damit können Konfliktlagen objektiviert, entideologisiert werden. Weil aber eine wesentliche Voraussetzung guter Kompromisse das Prinzip der Öffentlichkeit ist, fällt den Medien mit der Sensibilisierung für die Strategie  des Kompromisses eine entscheidende Aufgabe zu. Sie können Übereinkünfte nicht bewirken, aber sie können Wesentliches dazu beitragen, das Klima zu bereiten, in dem sie überhaupt erst möglich werden. Damit leisten sie  in hohem Masse Daseinshilfe und bewirken jene produktive Ordnung, die Erich Fromm das „lebensfördernde Syndrom“ nennt. Es in ihren Programmen immer wieder anzugehen, ist die Chance der Medien, mit deren Wahrnehmung sie ihre Grenzen überwinden können.


VOM DROHENDEN VERLUST DER GESCHICHTLICHKEIT

 

Auf die Frage, wie es denn mit dem Umweltschutz in Island bestellt sei, antwortete in einer vor mehreren Jahren durchgeführten Gesprächssendung des deutschen Fernsehens die isländische Staatspräsidentin Vigdis Finnbogadottir: „Wir tragen ungeheure Sorge zu unserem Meer, aber wir schützen auch unsere Geschichte und erhalten das Bewusstsein, wer wir sind und woher wir kommen.“

Ein solches Wort aus dem Munde einer Frau, die das höchste politische Amt ihres Landes verwaltet mit allem, was sich an bedrängenden Aufgaben der unmittelbaren Gegenwart mit ihm verbindet beeindruckt. Das klare, unverschränkte Ja zu den eigenen Wurzeln, zur Vergangenheit des Landes und des Volkes, deren Teil man ist, hingestellt neben das Bekenntnis zur Erhaltung und Bewahrung der natürlichen Umwelt, deren Gefährdung uns täglich erschreckend vor Augen geführt wird, macht betroffen in einer Zeit und in einer Gesellschaft, die ihr Heil durch den  alle Medien dominierenden Journalismus in einer totalen Verabsolutierung der Gegenwart, in einer krankhaften Übersteigerung ihrer Signale erblickt.

Gewiss, dem tua res agitur, das der Zeitgeist unentwegt von uns fordert, können und dürfen wir nicht ausweichen, sondern müssen uns ihm stellen mit all unseren Kräften. Aber in seinem unser Leben mehr und mehr bestimmenden Alleinanspruch liegt eine ungeheure Anmassung. Er wird verfestigt durch den technischen Fortschritt, der dem vergangenheitsfeindlichen Lebensgefühl dauernden Auftrieb verleiht; durch den Zwang zum wirtschaftlichen Wachstum, das uns in ein unbegrenztes Konsumverhalten hineinpeitscht; durch einen Jugendfetischismus, der sich immer greller, immer lauter, immer aufdringlicher manifestiert. Und dieses ganze Szenario wird dominiert durch die Medien, die elektronischen insbesondere, die mit ihrem Zwang zur täglichen Registrierung aktueller Fakten und Vorgänge, mit dem Geschiebe an Nachrichten, das sie stündlich herbeischaffen, einer vordergründigen Gegenwartsbesessenheit in hohem Masse Vorschub leisten. Damit wird die an sich schon latente Neigung des Menschen im Informationszeitalter, Einzelprobleme überdimensioniert und isoliert anzugehen, verstärkt, gleichzeitig aber die Fähigkeit immer mehr reduziert, Zusammenhänge zu erkennen. Die Folge ist die Einschätzung und Beurteilung von Lagen, die der geschichtlich bedingten Wirklichkeit kaum entsprechen.

Bedenklich aber und für unsere Gesellschaft verhängnisvoll ist es, wenn der Verlust an geschichtlicher Substanz dazu führt, dass Instanzen und Institutionen, geltende Normen, überzeitliche Werte und Ideale mit fast zynischer Genüsslichkeit gerade auch von kulturellen opinion leaders (und von denen, um sich damit in besonderer Weise zu profilieren) ihres Sinnes entleert werden. Da wird

Modernität zum Popanz und geschichtliche Substanz, historisches Bewusstsein werden demontiert, geschmäht, der Lächerlichkeit preisgegeben, im besten Falle hilflos verpackt. Ich lasse mir „Hamlet im Frack“ durchaus gefallen. Aber wenn der Frack wichtiger wird als Hamlet, wenn auf der Bühne das Wort des Dichters nicht mehr durchgreift, weil es zur Krücke reduziert wird, gut genug, die psychopathisch anmutenden Phantasmagorien selbstgefälliger Regisseure zu artikulieren, dann ist das nicht mehr lebendig in die  Gegenwart eingeholte dichterische Substanz, sondern aufdringlicher Modernismus, der kalt lässt oder verärgert. Das hat dann kaum noch etwas zu tun mit Gestaltung aus einer besonderen Sensibilität gegenüber dem Heute. Das ist Theater aus der „ Froschperspektive des privaten Einzelnen, der sich die Gesellschaft als eine blosse Summe von Seinesgleichen vorstellt.“ Das ist nur ein Bereich des hemmungslosen Tributes an die „würdelose Despotie des Zeitgeistes“, für die ideologisch betriebene Abkoppelung der Vergangenheit, die dem, der sie vornimmt, die Aura des Fortschrittlichen, des mit der Gegenwart Schritt Haltenden, des „mutigenVerächters alles ewig Gestrigen“ verleiht und ihn gleichzeitig instandsetzt, sein Tun und Handeln, in welchen Lebensbereichen auch immer, gleichsam unbeaufsichtigt von der Geschichte und ihren gesetzmässigen Abläufen vorzunehmen.

Damit aber werden Ordnungen verlassen, aus denen wir die so dringend notwendigen Massstäbe gewinnen müssten für die Bewältigung der Zukunft.  Gerade weil wir uns Bedrohungen gegenübersehen in einem Ausmass wie nie zuvor in der Geschichte der Menschheit, bedürften wir eines Standortes, der unseren Blick weitet, Horizonte öffnet, Kräfte frei macht, Phantasien weckt, um dieses so sehr bedrängte Dasein überhaupt noch bestehen zu können.

Gewinnen wir diese Möglichkeiten, wenn wie nur noch gebannt auf das Gegenwärtige starren, uns mittragen lassen von den vergangenheitsfeindlichen Strömungen der Zeit; Gefangene bleiben des Hier und Jetzt? Schon dem einzelnen geht ja nach Schopenhauer die klare Besonnenheit verloren, wenn er seine Vergangenheit nicht stets wieder ins Lebendige heraufholt, und „sein Gemüht wird ein Chaos, und eine gewisse Verworrenheit kommt in seine Gedanken, von welcher alsbald das Abrupte, Fragmentarische gleichsam Kleingehackte seiner Konversation  zeugt.“ Wie viel mehr werden die Menschen einer ganzen Generation mass-los und verworren in ihrem Tun und Lassen, wenn sie sich jeglicher Massstäbe begeben, die ihnen aus der Geschichte zuwachsen, dieser „unsterblichen Bürgerin aller Nationen und Zeiten“ (Schiller) und böte sie nur die Möglichkeit, das Gegenwärtige mit dem Zauberstab der Analogie zu messen und so die notwendigen Zusammenhänge zu gewinnen, die uns Klarsicht verschaffen für unser Handeln in und mit der Gegenwart.

Es geht nicht um die Einweisung der Vergangenheit in ein Reservat, um ihre Verklärung. Zur Vergangenheit gehören nicht nur Sophokles, Hölderlin, Mozart und Michelangelo.  Unsere unmittelbare Vergangenheit ist auch Hiroshima und Nagasaki, und wehe dem christlichen Abendland, würde es eines Tages erinnerungslos für das, was in Auschwitz geschehen ist und was über zweitausend Jahre hinweg an Verruchtheiten einem ganzen Volk angetan wurde. Wie sehr geschichtliche Masstäbe vom Schutt vordergründig aktueller Information überlagert werden, wird deutlich in der Überheblichkeit, und Selbstgerechtigkeit und der terrible simplification , mit welchen gerade in der schweizerischen Medienwelt das Geschehen im Nahen Osten urteilend und (Israel) verurteilend begleitet wird – eine bedenkliche Konsequenz verlorengegangenen Bewusstseins für geschichtliche Zusammenhänge. Da bekommt Nietzsches Wort bedrängende Aktualität, dass „erst durch die Kraft, das Vergangene zum Leben zu gebrauchen und aus dem Geschehenen wieder Geschichte zu machen, der Mensch zum Menschen werde.“ Dieses Verhältnis zur Geschichte, auch und gerade zu der unseres eigenen Landes und Volkes wiederzugewinnen, die mannigfachen Verbauungen, die uns die Sicht nach rückwärts verengen, abzutragen, - das ist nicht Flucht aus der Gegenwart. Im Gegenteil, das macht uns frei, schafft Raun, in welchem Kräfte sich entwickeln und wirken können, deren wir heute dringend bedürfen, um die so schwierig gewordene Gegenwart zu bestehen und die Zukunft heftiger begehren zu lernen. Nur so gewinnen wir die Sicht für das, was heute von uns gefordert ist, aber auch für das Künftige, denn „die Verlängerung nach rückwärts der von uns nach vorwärts gewollten Richtung ist für uns die bejahte Grundkoordinate der Geschichte.“ (Alexander Rüstow). Oder, um die Worte der isländischen Staatspräsidentin wieder aufzugreifen: dann tragen wir Sorge zu unserer Umwelt, aber ebenso nehmen wir unsere Geschichte unter unsern Schutz.